Bahro über Frieden (1982)
In Logik der Rettung zitiert Bahro sich selbst von 1982 zur Frage Was heißt Frieden? wie folgt:
der ideale Zustand, in dem die Menschen nicht Gewalt gegeneinander anwenden – auch nicht versteckt und indirekt – und in dem sich jeder so entwickeln kann, wie es zu seiner Zeit durchschnittlich möglich ist. Da sind also Freiheit und Gerechtigkeit mitgemeint.
Auf den ersten Blick geht das zu weit. Wollen wir denn nicht zufrieden sein, wenn uns keine Atombomben und auch keine »normalen« Panzergranaten umbringen? Wenn auf der Südhalbkugel nicht jährlich mehr Kinder Hungers sterben (letztes Jahr 14 Millionen), als es in einem Jahr des zweiten Weltkriegs Tote gab? Und wenn uns nicht demnächst der Sauerstoff zum Atmen ausgeht?
Aber entgehen wir alledem, wenn wir ansonsten weitermachen wie bisher? Wir haben der ganzen Welt gezeigt, was und wieviel man haben muss. Wie kann es gut ausgehen, wenn immer mehr Menschen von unserer endlichen Erde immer mehr pro Kopf verbrauchen, zerstören, vergiften, wie wir es vormachen? Darüber müssen wir untereinander und mit der Natur zusammenstoßen.
Wir hören nicht gern, wenn jemand ansetzt: »Kriege hat es immer gegeben...« Dabei ist es nur zu wahr. Soll der dritte Weltkrieg ausfallen, soll nicht die halbe Menschheit absolut verelenden, ein großer Teil verhungern, soll der endgültige Kollaps der Umwelt abgewendet werden – müssen wir uns über die bisher bekannten Gesetze menschlicher Geschichte erheben.
Zuerst wäre zu lernen, und nicht allein fürs Militärische: Sicherheit suchen und Frieden suchen ist nicht dasselbe. Wer Sicherheit sucht, misstraut und trifft Vorkehrungen, die wiederum das Misstrauen des anderen nähren. Sicherheitspolitik hat ganz offenbar dahin geführt, dass wir jetzt auf einem atomaren Pulverfass sitzen. Sie soll die Gegenseite drohend abschrecken. Friedenspolitik würde die Drohung wegnehmen, zumindest verringern, und darauf vertrauen, dass dann auch die Bedrohung weggenommen, wenigstens verringert wird. Wer Sicherheits- und Friedenspolitik in einem sagt, täuscht, die ihm zuhören. Die bisherige Sicherheitspolitik ist Selbstmordpolitik.
Aber die neuesten Raketen verhindern, selbst die ganze Rüstung abschaffen wollen, damit sie uns nicht abschafft, genügt noch nicht. Wer nur das will und nicht mehr, wird nicht durchkommen. Man kann keine Hydra besiegen, indem man ihr einen und den anderen Kopf abschlägt, während ihre inneren Säfte stets neue Köpfe hervortreiben. Wollen wir dem Ungeheuer den Bauch aufschlitzen, damit es wirklich eingeht, müssen wir vor allem seinen Namen wissen.
Es ist unser Industriesystem, unsere industrielle Lebensweise selbst. Wir sind nicht per Zufall dazu gekommen. Es ist unsere Tüchtigkeit, Natur zu verändern schlechthin, die uns jetzt den Pferdefuß zeigt. Wir hatten einmal so viel Erfolg mit der Arbeit, uns die ersten Lebensmittel selbst zu produzieren. Seither wiederholen wir uns auf immer größerer Stufe, nach der Olympiaformel »Höher, weiter, schneller, besser!«, vor allem: »Immer mehr!«
Hier in Europa haben wir das Nonplusultra gefunden, die Wirtschaftsweise mit dem schärfsten Antrieb und der fürchterlichsten Effizienz, auf die wir so stolz sind...
Das steckt so von Grund auf in all den Wachstumskurven, die seit 1750 nicht mehr wie zuvor unmerklich ansteigen, sondern plötzlich senkrecht in die Höhe weisen, dass es eher verharmlosend ist, irgend eine spezielle Rüstungsproduktion auf irgend ein spezielles Profitinteresse zurückzuführen. Es stimmt natürlich, aber es geht um mehr. Bisher dachten diejenigen, die enteignen und damit alles lösen wollten, keineswegs daran, die Große Maschine anzuhalten. Das Kapitalverhältnis ist nicht die letzte Ursache, sondern nur das jüngste Mittel der Expansion. Es ist bloß der höchste Ast an dem Baum der menschlichen Produktionsweisen, und es wird sich als ganz unmöglich erweisen, ihn für sich alleine abzusägen.
Friede verlangt, dass wir die ganze Zivilisation neu beginnen, die Quelle für die Konkurrenz um knappe materielle Güter halbwegs verstopfen, indem wir allen materiellen Verbrauch und alle materialle Produktion auf das für annähernd gleiche Befriedigung der natürlichen Grundbedürfnisse notwendige Minimum zurückführen. Goethe hatte seinen Faust sagen lassen: »Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt: Tor! wer dorthin die Augen blinzelnd richtet... Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.« So ließ er ihn den Sumpf trockenlegen, der am Gebirge hinzog. Was nun, da wir damit zu Ende sind?
Wie es scheint, ist nach »drüben«, »oben«, »innen« und natürlich zum anderen Menschen hin die einzige Aussicht offen. Und wir müssen uns darauf konzentrieren, dort unsere Tüchtigkeit zu üben, weil es lebensgefährlich ist, weiter so viel Natur zu verändern, Wissen dafür aufzuhäufen und Schätze dabei zu sammeln. Halt! Nicht weiter! Jede neue Investition, nicht nur die Raketen, ist teuflisch und tödlich zugleich. Der Friede beginnt damit, dass wir die Hände von dem größten Teil der Arbeit lassen, die die meisten von uns jeden Tag verrichten. Freilich hätten wir noch eine Weile mit dem Abbauen und Umbauen zu tun. Dort, wo die Pyramiden stehen geblieben sind, weil man sie nicht rechtzeitig abgerissen hat, leben keine Menschen mehr.
Resignieren nicht die meisten, weil sie Angst haben, durchaus möglichen Widerstand zu leisten? Mehr Angst vor dem täglichen als vor dem endgültigen Risiko? Ich denke an die Zeit des Widerstandes gegen Hitler. Wie wenig müssten die Bürger dieses Landes riskieren, um sehr wesentliche Veränderungen zu erreichen. Es müssten nicht mal alle zivil ungehorsam sein... Wer jetzt nichts wagt, weiß nicht oder will nicht wissen, dass die Apokalypse höchst wahrscheinlich ist, falls wir nicht allen Ernstes mit ihr rechnen und uns danach verhalten... Wir müssen den Ausweg finden, und wir müssen so bedingungslos suchen, dass es schlimmstenfalls nicht an uns gelegen hat... Wir bilden uns nicht ein, die Taube auf dem Dach wird leicht zu fangen sein. Was wir erreichen wollen, gleicht dem Versuch, eine Lawine zum Stehen zu bringen aus deren Innerem heraus. Wer den Vorgang von außen beobachten könnte, müsste die Lawine wie von Geisterhand gebremst und angehalten sehen kurz vor dem Aufschlag. Das ist gegen das Gesetz der trägen Masse Beton und Stahl, die uns umhüllt. Also kann es nur eine Anstrengung aus dem Bewusstsein, aus den Seelen sein, eine so konzertierte und von so vielen Menschen, wie sie in der Geschichte ohne Beispiel ist.
Wir müssen uns etwas vorstellen, wie den von Moses inspirierten Auszug aus Ägypten und wie die ersten Pfingsten nach der Auferstehung Christi – beides in eins gedacht und das durch die ganze Menschheit hin, beginnend aber in den reichen Ländern und vor allem in Europa. Denn wir waren der Zauberlehrling, der den Besen zuerst gerufen hat, uns machen sie alles nach, hier hat der Teufelskreis seinen Schwerpunkt, und unser Kontinent ist der verletzlichste.
Ich glaube, dass diese Umkehr möglich ist, weil der Mensch sich jetzt in seinem Selbsterhaltungstrieb bedroht fühlt. Da wächst die ursprünglich ohnehin in jedem Menschen vorhandene Neigung, sich einer letzten, äußersten Alternative anzuvertrauen, sei sie auch noch so ungewiß – weil nichts anderes mehr übrig bleibt. Die Entschließung kann plötzlich – morgen, übermorgen – über Millionen Menschen kommen und den Horizont des politisch Möglichen über Nacht erweitern. Kleinere und mittlere Katastrophen werden nicht verfehlen, uns an die Nähe der Zeiten zu erinnern.
Ich schlage vor, dass wir in Erwartung dieser Stunde jeder bei sich selbst und in seinem Umkreis die Unruhe und das Bereitsein nähren für die allgemeine Sinnesänderung. Entziehen wir der großen Maschine und ihren Dienern nicht nur unsere Wahlstimme. Wir müssen überhaupt aufhören, mitzuspielen, wo immer das möglich ist. Wir müssen allmählich alles lahmlegen, was in die alte Richtung läuft: Militäranlagen und Autobahnen, Atomkraftwerke und Flugplätze, Chemiefabriken und Großkrankenhäuser, Supermärkte und Lernfabriken.
Lasst uns darüber nachdenken, wie wir uns unabhängig von der Großen Maschine nähren, wärmen, kleiden, bilden und gesund erhalten können. Beginnen wir daran zu arbeiten, ehe sie uns vollends durchgesteuert, einbetoniert, vergiftet, erstickt und eher früher als später atomar totalvernichtet hat.