Das Nadelöhr

Mit unserer menschlichen Spezies ist die Evolution ein großes Wagnis eingegangen, welches sich als fatal erweisen könnte. Unsere Spezies muss durch ein Nadelöhr: entweder Kinderkrankheiten ablegen oder untergehen.

Unsere Stärken – wie die Kollaboration, das Gedächtnis, die Modellbildung, die Wissensweitergabe – haben uns dazu befähigt, zu einer alles dominierenden Kraft zu werden. Gleichzeitig ist die Lebensweise unserer Spezies nicht so stark vorbestimmt wie die der anderen – Menschen haben in unterschiedlichsten Kulturen gelebt, sei es nomadisch oder sesshaft, sei es als Beutegreifer oder mit Ackerbau und Viehzucht. Es ist also eine Frage unserer jeweiligen Kultur, wie wir unsere eminenten Stärken ausspielen.

Die heute weltweit vorherrschende Kultur basiert auf Hierarchien zwischen Menschen, aber auch zwischen Menschen und anderen Spezies – der ackerbauende Mensch ist anmaßend und entscheidet, welche Spezies leben sollen (sog. Nutzpflanzen oder Nützlinge) und welche nicht (sog. Unkraut oder Schädlinge). Diese Grundzüge reichen mindestens bis zu den Sumerern vor 5000 Jahren zurück.

Unsere Kultur setzt unserem Handeln keine effektiven Grenzen; sie hat uns nie daran gehindert, fruchtbare Böden in Staubwüsten zu verwandeln oder Fischbestände leerzufischen. Deswegen ist sie nicht tragfähig; sie wird zwangsläufig an ihrer Maßlosigkeit scheitern. Hier ist nicht der Ort für Beweisführung – wer Augen hat zu sehen, der sehe. Nur so viel: Ausbeutung und Ökozide werden nicht dadurch besser, wenn sie mit Solarstrom betrieben werden.

Kurzfristig allerdings ist unsere Kultur allen tragfähigen Kulturen überlegen, eben weil sie weniger Grenzen zu beachten hat. Sie bildet also eine Barriere: So lange sie besteht, hat die Evolution des Menschen keine Chance. Ich wiederhole: so lange unsere Kultur besteht, hat die Evolution des Menschen keine Chance. Dabei ist es egal, welche Koalition gerade regiert und wie gut wir unseren Müll recyclen.

Unsere Kultur kann als eine Art Kinderkrankheit unserer noch recht jungen Spezies betrachtet werden. Sie ist die Erbsünde (vgl. Taxacher); ihr Anfang war der Sündenfall (vgl. Ismael, Human Nature Odyssey).

Unsere Kultur muss also eines Tages ob ihrer Maßlosigkeit untergehen. Die Frage ist nur, ob unsere Spezies dann noch eine Chance bekommt, sprich: ob das dann auf unserem Planeten verbleibende Leben noch ausreicht.

Mit anderen Worten: Unsere Spezies geht durch einen Engpass – das Nadelöhr. Entweder wir legen unsere Kinderkrankheiten rechtzeitig ab, oder wir gehen unter.

Mit all den gegenwärtigen Krisen und Konflikten erleben wir bereits die Vorboten dessen. Diese Krisen sind aus vielen Gründen unvermeidlich, und dies umso mehr, je mehr wir an unserer Kultur festhalten.

Eine neue, tragfähige Kultur muss (ökologische) Grenzüberschreitungen effektiv ächten und ahnden, und zwar global, um überhaupt gegen maßlose Kulturen wie die unsrige bestehen zu können. Eine tragfähige Kultur beinhaltet – meiner Meinung nach – einen Schöpfungsmythos, der unsere immensen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Welt gut abbildet, der uns aber gleichzeitig als gleichrangige Geschöpfe in einem lebendigen, wundervollen Kosmos verortet (vgl. The Universe Story u.a.).

Falls die Menschheit das andere Ende des Nadelöhrs erreicht, werden wir dies nicht mehr erleben. Auch unsere Kinder nicht. Dennoch müssen wir schon heute alles dafür tun: Wo immer sich inmitten der Krisen Freiräume auftun, wo das Gebäude der modernen Zivilisation Risse bekommt und bröckelt, immer da müssen wir uns von der jetzigen Kultur verabschieden und neue Wege suchen (vgl. Hospicing Modernity). Dazu müssen wir uns mit unserem konkreten Umfeld – den Menschen, den Pflanzen, den Tieren, den Orten um uns herum – genau so befassen wie mit dem großen Ganzen – dem Kosmos und dem Schöpfungsmythos. So werden wir Teil der Großen Wendung.

Was uns jedoch nicht helfen wird: die Politik, die Medien oder die Technik.